Rezidiv oder wir wollen leben – Teil III

Kapitel 17

Es vergingen die Tage von Tinas Krankenhausaufenthalt. Es blieb noch eine einzige Unsicherheit. Was kommt nach der Operation. Was wird der pathologische Befund des Tumors ergeben. Ist der Krebs mit der Amputation besiegt. Alle diese Fragen waren noch offen und konnte noch nicht beantwortet werden. Hier hieß es wieder warten. Ein Hammer kam aber noch. Nach der Operation erhielt ich zu Hause den Befundbericht des Klinikradiologen. Ich öffnete den Brief und was ich dort las, schlug dem Fass den Boden aus. Dort stand tatsächlich, dass man bei der Stanzbiopsie keine Anhaltspunkte für einen Krebs in der Brust gefunden habe. Wenn ich nicht damals vor Tinas Operation auf dem Weg zum Anästhesisten in ihre Krankenakte geguckt und diesen Brief nicht bereits gekannt hätte, wären wir sehr verunsichert gewesen. Dies konnte die radiologische Abteilung aber nicht wissen. Es hatte also keine Absprache zwischen den einzelnen Abteilungen stattgefunden. Es erschreckte mich wieder und ich fragte mich, ob nicht an dem Konzept des Brustzentrums noch etwas gefeilt werden musste. Solche Pannen dürfen meines Erachtens nicht passieren.

Kapitel 18

Täglich besuchte ich Tina im Krankenhaus. Dabei wechselte ich mich mit meinen Töchtern ab. Sonntagabend sagte Tina mir, dass sie vielleicht am Montag entlassen würde. Ich freute mich sehr. Etwas enttäuscht war ich dann, als sie mir später am Telefon sagte, dass es wahrscheinlich erst Dienstag würde. Allerdings konnte ich die Verschiebung nicht verstehen, weil man Tina bereits am Montagmorgen die Wunddrainage gezogen hatte. Danach hätte sie nach meiner Meinung nach Hause gehen können. Später erfuhr ich, dass Tina um die Verlängerung gebeten hatte, weil sie sich im Krankenhaus nach diesem Operationstrauma sicherer fühlte. Na ja, es war nur noch eine Nacht. Am nächsten Tag war es so weit. Da ich leider arbeiten musste, bat ich Sonja, Tina mit unserem Auto abzuholen. Gleichzeitig hatte ich geplant, am Dienstagabend mit meiner Familie in ein Restaurant zu gehen, damit wir ihre Entlassung feiern konnten. Da ich ein besonders ruhiges Lokal in unserer Nähe ausgesucht hatte, glaubte ich, ich würde Tina eine Freude machen. Es ist ja nicht mehr so oft, dass meine Familie noch einmal etwas zusammen unternehmen kann. Sonja musste schließlich auch am nächsten Tag wieder nach Hause. Am Abend wollten wir uns zum Ausgehen fertig machen. Tina stand im Badezimmer und schminkte sich. Plötzlich hörten Sonja und ich ein lautes Weinen. Tina stand völlig auflöst im Badezimmer und zeigte ständig auf den Spiegel. „Ich gehe nicht mit, so kann ich nicht auf die Straße“, schrie sie. Ich wusste gar nicht, was sie meinte. „Siehst du das nicht“, fragte sie. „Was meinst du?“ „Ich habe doch auf der rechten Seite gar keinen Nippel. Jetzt sieht jeder, dass ich keine Brust mehr habe!“ weinte sie. Sonja und ich waren wie gelähmt. Was sollten wir nun machen. Ich versuchte Tina zu erklären, dass das doch gar nicht so schlimm aussehen und die anderen Leute überhaupt nicht darauf achten würden. Tina sagte bzw. schrie mich an:  Das stimmt doch gar nicht!“ Was sollten wir nun machen. Ich versuchte sie zu überreden, doch mitzukommen. Ich hatte mich doch so auf diesen Abend gefreut. Hiermit hatte ich einen sehr starken Druck auf Tina ausgeübt. Fieberhaft suchte Sonja im Schrank nach einem anderen Oberteil. Endlich fanden wir etwas, das von der fehlenden Brustwarze ablenken konnte. Ich werde nie das Gesicht von Tina vergessen, als wir endlich losgingen. In ihrem Gesicht spiegelte sich neben ihrer Unsicherheit auch Zorn ab. Diese Wut galt mir. Wie konnte ich es wagen, Tina wegen einem Essen so unter Druck zu setzen. Ich hatte wohl vergessen, dass sie doch erst gerade aus dem Krankenhaus gekommen war. Irgendwie habe ich aber nicht so weit gedacht, zumal ich bisher glaubte, dass es ihr gut gehen würde. Dies hatte sie mir im Krankenhaus so vermittelt. Darüber hinaus wollte ich ihr doch nur eine Freude machen. Nun liegt es in Tinas Wesen, dass sie auch schon früher öfters gesagt habe, dass sie etwas nicht machen würde, wenn sie sich geärgert hatte. Oft war es dann nur Ritual, dass ich sie überreden solle. Dann war es meistens auch sehr schön gewesen. Diesmal hatte ich auf die besondere Situation nicht geachtet, sondern nur das übliche Ritual abgehalten. Tina will nicht. Tina will überredet werden. Es wird schön. Ich merkte nur nicht, dass es diesmal ganz anders war.

Im Restaurant trafen wir uns mit unserer jüngeren Tochter Sarah. Immer noch lag eine gedrückte Stimmung in der Luft. Es wurde erst besser, als das Essen kam und die Mädchen anfingen, zu erzählen. Ich glaubte, wir hatten einen schönen Abend. Der Krebs war kein Thema mehr. Ich ahnte aber nicht, dass der Stachel so tief saß und Tina durch mein Verhalten sehr verletzt war. Ich wusste nur, dass wir etwas unternehmen mussten, damit sie nicht das Gefühl hatte, von allen angestarrt zu werden. Noch am Abend versprach ich ihr, am nächsten Tag mit ihr zu einem Sanitätshaus zu fahren.

Da wollte ich ihr einen Prothesen – BH sowie eine Prothese kaufen.

Kapitel 19

Am nächsten Tag fuhr ich mit unserem Auto fast bis in die Eingangstür des Sanitätshauses. Tina ging sofort hinein, ohne sich umzudrehen. Schnell fanden wir etwas Passendes. Die Verkäuferin und ich sagten fast gleichzeitig, dass es toll aussehen würde. Da auf der Prothese eine Brustwarze angedeutet war, sagte ich zu Tina: „Jetzt haben wir eine Lösung gefunden!“ Tina strahlte und sagte: „Schatz darf ich das direkt anlassen?“ „Komische Frage, natürlich!“ So ist Tina. Das kommt bestimmt noch aus ihrer Kindheit. Tina war die älteste von 6 Geschwistern. In der Familie bestand immer Geldnot. So konnte sie nicht allzu oft neue Klamotten kaufen. Wenn das doch einmal der Fall war, wurden die neuen Sachen sehr sorgfältig behandelt und geschont, damit sie länger halten sollten. Das war in der damaligen Situation sicherlich verständlich gewesen. Dieses Verhalten hatte Tina aber nie abgelegt. Obwohl wir 30 Jahre verheiratet sind und es uns heute finanziell nun gut geht.

Tina sah in ihrem Sonnentop einfach toll aus. Keiner konnte mehr sehen oder ahnen, dass ihr eine Brust fehlte. Ich lud sie in einen Biergarten ein, wo wir doch einige Zeit glücklich saßen und über viele normale Dinge redeten. Der Krebs spielte da keine Rolle. Danach gingen wir shoppen. Es war so eine schöne Normalität. Auch als sich Tina im Laden viele Oberteile über den Arm legte und damit in eine Umkleidekabine verschwand. Ich saß davor und sagte ihr meine Meinung über die einzelnen Kleidungsstücke, die sie anprobierte. Das habe ich immer so getan. Ich gehöre nicht zu den Männern, die einfach nur ihren Frauen zustimmen. Dabei hoffen diese, dass sie bald ihre Ruhe haben. Ich aber habe immer meine Meinung beim Anprobieren gesagt. Oft merkte ich, dass andere Frauen neidisch auf Tina waren, wenn ich offen und ehrlich sagte: „Das steht dir gut oder dieses sitzt nicht richtig. Nimm doch einmal eine größere oder kleiner Konfektionsgröße.“ Ganz erstaunt schauten sie dann, wenn ich mit neuen Anziehsachen kam und Tina vorschlug, diese einmal anzuprobieren. Im Laufe der Jahre kannte ich Tinas Geschmack ganz gut. Richtig erschrocken waren andere dann, wenn es Tina auch noch gefiel. So hatte ich schon viele Modeläden kennen gelernt. Ich klassifiziere sie in männerfreundliche und männerunfreundliche Geschäfte. Männerfreundliche Läden sind die, in denen es vor den Damenumkleidekabinen eine Sitzmöglichkeit gibt. Noch besser ist dann noch, wenn es einen Kaffeeautomat oder einen Wasserspender gibt. Man kann es sich dann gemütlich machen und die Modenschau seiner Frau genießen. Dies wäre doch eine sehr gute Geschäftsidee, da es nichts Schlimmeres für eine auf Beute gehende Frau gibt, wenn ihr ein gelangweilter und nörgelnder Ehemann oder Partner den Spaß verdirbt. Diesmal war mir das alles egal, Ich freute mich, dass Tina eine Modenschau nur für mich machen konnte. Keinen Moment tat mir das viele Geld leid, welches wir für BH und Prothese ausgegeben hatten. Im Krankenhaus hatte die Vertreterin eines Sanitätshauses den Patientinnen erzählt, dass die Krankenkasse keine lose Silikonbrustprothese bei Frauen bezahlen würde, die sich für einen Brustaufbau entschieden hätten. Dies konnte ich gar nicht verstehen, da ein Brustaufbau erst nach Monaten oder sogar Jahren abgeschlossen ist. Sollte dann eine Frau solange ohne entsprechende Hilfsmittel bleiben. Ich beschloss, dies einmal bei der Krankenkasse nach zu fragen.

Kapitel 20

Wir warteten noch immer auf das pathologische Ergebnis. Danach sollte sich entscheiden, ob Tina noch eine Chemo bekommen müsste. Wir wussten nur, dass man uns innerhalb von zehn Tage informieren wollte. Leider hatte man Tina im Krankenhaus keine oder nur wenige Tipps bei auftretenden Schmerzen gegeben. Man hatte ihr lediglich einen Zettel mit gymnastischen Übungen mitgegeben und ihr gesagt, sie soll sich schonen. Im Krankenhaus hatte man ihr gegen die Schmerzen zumeist ein Kühlpad oder eine Schmerztablette gegeben. Keiner hatte ihr gesagt, wofür das Kühlpad eigentlich war. Im Krankenhaus tat es einfach gut. Als nun zu Hause die Schmerzen wieder auftraten, machte Tina genau das, was die meisten Kranken zu Hause immer machen. Die Schmerzen aushalten und bloß keine Schmerztablette wegen einer befürchteten Abhängigkeit nehmen. Sie nahm lediglich das Kühlpad und versuchte die Übung vom Übungsblatt aus dem Krankenhaus nachzumachen. Dies hatte gar keinen Erfolg. Ich vermutete eher, dass sich hierdurch die Schmerzen eher verstärken würden. Ich bedrängt sie, doch eine Tablette zu nehmen. Aber wir wussten nicht welche. Man hatte uns lediglich gesagt, bloß kein Aspirin nehmen. Nach einigen Telefonanrufen mit anderen Ärzten entschieden wir uns für Ibuprofen. Gleichzeitig versuchte ich mit Tina die gymnastischen Übungen zusammen zu machen. Langsam lernten wir, welche Fehler sie dabei gemacht hatte. Ich finde, dass man solche Übungen gezeigt bekommen sollte, bevor man entlassen wird.

Kapitel 21

Tina meinte, sie müsse nur die zehn Tage bis zum Ziehen der Fäden durchhalten. Irgendwann kam der Vorwurf, den ich bereits erwartet und befürchtet hatte. „Auch hätte ich mich doch nicht für den Brustaufbau entschieden. Dann hätte ich jetzt keine Schmerzen.“ Obwohl sie mich nicht direkt ansprach, fühlte ich mich getroffen. Plötzlich kam die dunkle Wand. Ich sah sie kommen und konnte ihr nicht entgehen. Ich wurde unheimlich traurig. Ständig war mir nun noch zum Heulen zu Mute. In meiner Not rief ich Renate von „Wir alle“ an. Sie versuchte mir zu erklären, welches Trauma Tina derzeitig durchlebte. Mit dem Kopf konnte ich es verstehen. Ich fühlte aber nur noch den tiefen Schmerz in mir, dass ich Tina durch meinen Rat geschadet haben könnte. Es kostete mich nun jeden Tag sehr viel Energie, um aus meiner Depression kommen. Dies hatte dann zum Ergebnis, dass ich nicht mehr genügend Kraft hatte, Tina beizustehen. Sie hielt sich aber tapfer und merkte bald, was mit mir los war. Sie half mir so gut es ging. Dabei war sie doch selbst krank. Damit verstärkte sich die schwarze Wand. Selbst meine Arbeitskollegen spürten, dass es mir nicht gut ging. Ich bin sonst ein fröhlicher und mitteilsamer Mensch. Sie machten das, was die meisten anderen auch machen würden. Sie schonten mich und ließen mich in Ruhe. Oft konnte ich das Getue nicht ertragen. Vielleicht hätte mich einer von ihnen einmal treten sollen. Dann wäre ich vielleicht dann wach geworden. So ging ich wie eine Maschine zur Arbeit. Eine Kollegin meinte mitfühlend, warum ich mich nicht krankschreiben lassen wolle. Sie verstand es nicht, dass mir hierdurch nicht geholfen würde. Die Ablenkung durch die Arbeit war sicherlich besser als zu Hause ständig über die Krankheit und meinem Verhalten nachzugrübeln. Im Jahre 2004 war das anders. Ich hatte gar keine Zeit nachzudenken, da ich mich in einem ständigen Kampf gegen das damalige Gesundheitssystem befand. Rechnungen wurden erst nach mehreren Vorsprachen oder Schriftsätzen bezahlt. Sanitätshäuser oder Perückenstudios versuchten sich, an uns zu bereichern. Ich war damals so erfolgreich, dass ich alles durchgedrückt bekam, was wir benötigten. Nun war es aber anders. Eigentlich waren die meisten Leute insbesondere die der Krankenkasse unheimlich nett und hilfsbereit. Es waren mir die Gegner ausgegangen. Ich hatte viel zu viel Zeit über unser Schicksal nach zu denken. Was eigentlich ein Segen war, entwickelte sich bei mir zu einem Fluch, der mich immer tiefer in die Depression stürzen lies. Ich konnte nicht helfen oder Hilfen, die ich Tina geben wollte, waren erfolglos oder sogar hinderlich. Renate erkannte meine Not und vernetzte mich mit einem anderen Partner einer ehemaligen Brustkrebserkrankten. Ich rief ihn auch an. Ich fand ihn nett und sagte ihm zwar zu, dass ich ihn treffen wolle, wenn wir den pathologischen Befund hätten und wüssten, wie es weiter gehen würde. Danach könne ich mich besser auf ein Gespräch mit ihm einlassen. Er gab sich viel Mühe, mir Zuversicht zu geben. Leider kamen seine Worte bei mir nicht an. Er sprach zu viel von Gesundwerden und Hoffnung. Soweit waren wir noch nicht. Die Depression drohte mich zu übermannen. Gott sei Dank hatte Renate mir eine Adresse und Telefonnummer einer Psychologin gegeben. Sie sollte Tina helfen, ihr Trauma zu überwinden. Endlich konnte ich etwas tun. Ich rief am nächsten Tag die Psychologin an. Leider erreichte ich sie nicht, sondern konnte nur eine Nachricht auf deren Anrufbeantworter sprechen. Ich hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, als sie mich zurückrief. Wir einigten uns darauf, dass wir zuerst als Paar kommen würden, um ein Vorgespräch zu führen. Danach könnte man über die weiteren Therapien nachdenken. Schnell fanden wir einen Termin. Ich konnte da noch nicht ahnen, wie wichtig dieser Termin noch sein sollte.