Rezidiv oder wir wollen leben – Teil IV

Kapitel 22

Nun warteten wir bereits schon über zehn Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus auf das pathologische Ergebnis. Auch war noch kein Termin zum Ziehen der Operationsfäden mit dem Brustzentrum vereinbart, zumal die Oberärztin Tina gesagt hätte, dass die Fäden nach zehn Tagen gezogen werden sollten. Dies könne dann ja bei der Besprechung des Befundes erfolgen. Tina wartete brav. Da aber nach zwei Wochen immer noch kein Anruf kam, beschloss Tina an einem Mittwoch zu ihrem Frauenarzt zu gehen, damit dieser die Fäden ziehen könne. Leider war dieser in Urlaub. So übernahm seine Partnerin in der Praxis diese Aufgabe. Dabei erzählte sie Tina, sie hätte von dem Brustzentrum einen Brief erhalten. Darin stünde, dass sich die Tumorkonferenz im Brustzentrum zu einer Chemo entschieden habe, weil man in Tinas amputierter Brust einen weiteren bösartigen Tumor gefunden worden habe. Leider war die Ärztin keine Brustkrebsspezialistin wie ihr Kollege und davon ausgegangen, dass Tina bereits über den Bericht informiert sei. Als sie merkte, dass das nicht der Fall war, war sie sehr erschrocken und bat, Tina sollte sich den Bericht im Brustzentrum erklären lassen. Welch eine Panne. Nun gab es Andeutungen eines weiteren Tumors und keine Klarheit durch die irgendwelche Fachleute. Telefonisch klärte mich Tina hierüber auf. Ich merkte ihr an, dass sie mit der Fassung rang. Das machte mich sehr wütend. Ich rief umgehend im Brustzentrum an und bestand auf einen sofortigen Besprechungstermin. Das Seltsame an meiner Depression war, dass sobald ich wütend wurde, handeln konnte und nicht gelähmt war. Konnte ich nichts machen, kam die schwarze Wand wieder. Ich bekam vom Brustzentrum für den nächsten Montag einen Termin zur Besprechung. Damit waren schon zweieinhalb Wochen anstelle der angegebenen zehn Tage verstrichen. Gestern hatte ich im Fernsehen eine Diskussion zwischen Politikern verfolgt, die sich darüber stritten, ob Privatpatienten bevorzugt würden. Ich hatte schon oft insbesondere im Brustzentrum erlebt, dass der Wartebereich für Kassenpatienten übervoll war und im kleinen Wartebereich der angrenzenden Privatambulanz keiner saß. Diese wurden wohl immer sofort bedient. Ob ein Privatpatient genauso lange auf ein Ergebnis warten musste? Oft hatte ich in diesen Tagen meine damalige Entscheidung verflucht, als so genannter „freiwillig Versicherter“ in eine gesetzliche Krankenkasse zu sein. Als Beamter hätte ich mich ja auch privat versichern können. Nun hingen wir in diesem Versicherungssystem fest. Eine private Krankenversicherung hätte uns im jetzigen Zustand sicherlich nicht mehr aufgenommen oder alle möglichen Krankheiten aus dem Versicherungsverhältnis ausgeklammert oder mit hohen Zusatzgebühren versichert. Ich möchte betonen, dass ich mit meiner Krankenkasse immer zufrieden war und bin. Die Mitarbeiter waren stets bemüht und haben uns immer nach Kräften geholfen. Ich denke, die Schwierigkeit geht ganz alleine von den Ärzten aus. Viele Dinge wurden von Ärzten unter Hinweis auf die Gesundheitsreform nicht verschrieben, obwohl sie im Gesundheitskatalog aufgeführt waren. Dies bedeutete immer einen unnötigen Kampf. Ich erinnere mich hierbei an eine Situation bei einem Orthopäden. Dieser hatte mir wegen meiner chronischen Rückenschmerzen Infusionen verordnet. Den Wirkstoff erhielt ich auf einem Kassenrezept während ich die Trägerlösung mit einem Privatrezept in der Apotheke kaufen sollte. Da ich dies nicht einsah, fragte ich bei der Krankenkasse nach. Sie bestätigte meine Auffassung, dass auch die Kochsalzlösung auf Kassenrezept verordnet werden müsste und im Leistungskatalog aufgenommen wäre. Ich sprach damals den Orthopäden an und verlangte das entsprechende Rezept, damit ich mir die 40,00 EURO aus der Apotheke zurückholen konnte. Er weigerte sich standhaft und verwies auf seine doch so angespannte finanzielle Situation. Sein Kassenbudget würde hinten und vorne nicht ausreichen. Er müsse schon Patienten kostenlos behandeln, weil die Kassen nichts mehr übernehmen würden, wenn sein Budget ausgeschöpft sei. Sprach er und meldete sich bei seiner Arzthelferin zum Segeln ab. Die Kasse erklärte mir aber, dass auch Leistungen bei entsprechender Begründung durch den Arzt besonders abgerechnet werden könnten. Wer nun Recht hatte, konnte ich nicht beurteilen. Ich war als Patient nachgewiesener Maße zwischen zwei Mühlsteine geraten und bezahlte die Zeche.

Fairerweise muss ich aber auch sagen, dass ich andere Ärzte getroffen habe, die keine Unterschiede gemacht haben.

Kapitel 23

Am Montag waren wir nun zum vereinbarten Termin im Brustzentrum. Nach einer erneuten Wartezeit empfing uns unsere Ärztin. Wir fragten zuerst, warum wir auf das Ergebnis so lange warten mussten. Sie erklärte uns, dass das Ergebnis der Tumorkonferenz abgewartet werden musste. Dann hätte sie die Sekretärin angewiesen, mit uns einen Termin zu vereinbaren. Darauf hätte man ihr gesagt, es wäre bereits aufgrund meines Anrufes geschehen. Wieso hatte aber der Frauenarzt vor uns Bescheid? Eine Erklärung gab sie hierfür nicht. Vielleicht musste sich die Ärztin sich auch um viele andere Sachen, wie zum Beispiel die Öffentlichkeitsarbeit im Brustzentrum kümmern. Nun habe ich einen Flyer gelesen, worin sie eine Filmvorführung für das Brustzentrum organisiert. Dies bedeutete sicherlich eine Menge Arbeit. Diese Zeit fehlte vielleicht den Patienten. Nun erklärte sie uns den pathologischen Bericht und versicherte, dass beide Tumore vollständig entfernt worden wäre. Hoppla, wieso beide Tumore? Tatsächlich handelte es sich um ein relativ ungefährliches Carcinom in Situ und einem gefährlicherem invasiven Carcinom. Die erstere Form bleibt in der Regel in den Milchgängen des Brustdrüsengewebes örtlich begrenzt. Das invasive Carcinom hat aber die Eigenschaft, sich auf das Nachbargewebe auszubreiten. Später erklärte uns der Frauenarzt, dass es schon im Jahre 2004 die beiden Tumore gegeben hatte. So deutlich hatte uns damals keiner die Berichte erklärt. Nun hatte man das invasive Carcinom mit der Brustamputation vollständig entfernt. Nunmehr sei eine Chemo erforderlich, damit evtl. Krebszellen, die sich vielleicht noch im Tinas Körper befinden würden, zerstört werden könnten. Damit würde eine hohe Wahrscheinlichkeit der Heilung bestehen. Hier muss ich noch bemerken, dass ich zuvor erneut mit Renate gesprochen hatte und auch sie hatte uns auch empfohlen, diese Chemo zu machen. Auch einschlägige Internetseiten hatten diese Auffassung bestätigt. Somit war die Entscheidung zu einer Chemo bereits gefallen. Auch sollte nun Herzeptin gegeben werden. Hierbei handelt es sich um einen so genannten Aromatasehemmer, der ebenfalls die Aufgabe hat, Krebszellen für Jahre zu vernichten. Nebenbei fragte die Oberärztin, ob sie uns bereits gesagt hätte, dass wir nunmehr verhüten müssten. Toll diese Frage kam erst jetzt. Gott sei Dank hatten wir selber bereits über das Problem nachgedacht. Darüber hinaus war die letzte Zeit nicht besonders hilfreich für die Libido gewesen. Ich hakte aber trotzdem nach und fragte, ob die Chemo nicht wieder die Eierstöcke lahmlegen würde. Ich glaube, sie verstand meine Frage gar nicht und sah mich an, als wäre ich ein sexgieriges Monster, das nur die Befriedigung seiner Triebe im Kopf habe, ohne Rücksicht auf seine erkrankte Frau. Ich sah ihrem Blick an: „Typisch Mann!“ Das ich vielleicht etwas anderes meinte, kam ihr gar nicht in den Sinn, auch nicht die Frage nach der Wahrscheinlichkeit der wieder auftretenden Periode. So kommt es öfters zu Missverständnissen von Männern und Frauen. Nach Ihrem Blick traute ich mich gar nicht mehr, weiter zu fragen. Die letzte Frage betraf den immer noch anstehenden Urlaub. Auch hier bemerkte ich diesen bereits oben beschriebenen Blick. In Ihren Augen war ich ein rücksichtsloser sexbesessener Mann, der nur an sein Vergnügen und seinen Urlaub dachte. Ich startete den letzten Versuch, in dem ich ihr sagte, ich wolle doch nur wissen, ob die Chemo sofort beginnen müsste oder könnte man noch bis nach dem Urlaub warten. Diese Frage hatte ich im Vorfeld mit Tina verabredet. Da die Ärztin aber nicht so lange warten wollte, wollten wir wissen, ob wir nun den Urlaub stornieren sollten. Sie antwortete, dass sie dies nicht beantworten könne. Vielleicht wäre es zwischen zwei Chemophasen möglich, diese Reise noch anzutreten, da jeder die Chemo anders vertragen würde. Nach den ersten zwei Zyklen könne man dann die Entscheidung treffen. Hier sprach eine Frau, die die Chemo nur in der Theorie kannte. Wie stellte sie sich denn das vor? Eine Reise ins Ausland während zwei Chemozyklen im Abstand von einer Woche? Was machen wir, wenn es zu extremen Nebenwirkungen kommen würde und das im Ausland? Wir wollten uns die Fragen zu Hause selber beantworten. Mit dieser Oberärztin hatte das keinen Sinn. Zu dominant war ihre Gesprächsführung. Nunmehr sollte die Chemo begonnen werden. Vor der Gabe von Herzeptin war aber dringend eine Untersuchung durch ein Herzecho erforderlich. Die nette Sekretärin im Brustecho organisierte uns für den nächsten Donnerstag die entsprechende Untersuchung bei einem niedergelassenen Internisten. Auch konnte sie uns für den gleichen Tag ein Chemovorgespräch in der neuen Chemoambulanz der Klinik vereinbaren.

Kapitel 24

Die Situation zu Hause wurde immer schlimmer. Tina litt unter Schmerzen. Dabei konnten wir nicht zuordnen, ob es sich um Wundschmerz oder um die Dehnung des Brustmuskels durch den Expander handelte. Ich haderte immer noch damit, dass ich Tina zu dem Brustaufbau überredet hatte. Tina verlor noch mehr Vertrauen zu den Ärzten. Meine Depression wurde immer stärker. Ich konnte mich kaum auf meinen Alltag konzentrieren. Immer wieder kamen Fragen: Wieso wir? Warum wurde das nicht früher entdeckt? Haben wir bei der ersten Krebserkrankung 2004 etwas übersehen? War ich schuld, dass Tina nunmehr so leiden musste? Warum habe ich sie immer beruhigt, wenn sie unsicher war, ob alles in Ordnung war? Warum kann ich ihr nicht helfen? Wieso bin ich so blockiert, dass sogar Tina mir helfen muss? Ich hatte keine Antwort. Während meiner Arbeit konnte ich mich kaum noch konzentrieren. Ich bin in meinem Arbeitsgebiet ein absoluter Fachmann. Meine Kollegen hängen zum Teil sehr von meinen Entscheidungen ab. Alles schien den Bach herunter zu gehen. Gott sei Dank hatten die Kollegen und meine Chefs sehr viel Verständnis. Aber wie lange würden sie dies noch gut gehen? Was würde passieren, wenn ich einen großen Fehler machen würde? Meine Kollegen unterstützten mich so gut wie sie konnten. Sie bügelten Fehler von mir aus. Ich werde sie alle einladen, wenn Tina gesund ist. Es musste also etwas geschehen. Es stand noch der Termin bei der Psychologin aus. Es war eine tolle Frau. Wir fassten sehr schnell Vertrauen zu ihr. Schnell hatte sie heraus, wo uns der Schuh drückte. Sie ließ uns reden. Ich konnte viele meiner Fragen formulieren und über meine Ängste frei Sprechen. Ich hatte keine Angst, Tina mit meinen Sorgen zu belasten, weil ja die Psychologin dabei war. Sie konnte eingreifen, wenn es zu viel für Tina werden sollte. Tina war aber sehr gefasst und ich bewunderte erneut ihre Stärke. Die Psychologin stellte fest, dass wir beide es schaffen werden. Alleine, dass sie das von uns glaubte, gab mir Kraft weiter zu machen. Die dunkle Wand war zwar nicht weg, aber hatte zumindest ein Fenster bekommen, aus dem ich herausschauen konnte. Je mehr Licht ich sah, umso dünner wurde sie. Die Psychologin hatte eine erstaunliche Art unsere Gefühle in kurzen Worten oder Sätzen zusammen zu fassen. Es war eine riesige Erleichterung, den großen Berg an Sorgen und Leid in diesen knappen Worten beschreiben zu können. Damit wurde alles kleiner und kleine Berge kann man überwinden.

Aber die Hauptkraft steckte in unserer Liebe. Ich konnte sie wieder fühlen und wusste, jetzt schaffen wir es. Nun war meine Idee geboren, alles aufzuschreiben. In diesem Buch konnte ich meine Gefühle und Ängste verarbeiten. Auch wenn es vielleicht nie veröffentlicht wird, hat es mir geholfen, meine Mitte wieder zu finden. Natürlich bin ich noch nicht über dem Berg. Ich kann aber wieder kämpfen und vor allen Dingen für Tina da sein. Irgendwann wird sie meine Hilfe brauchen. Dann bin ich bereit.

Kapitel 25

Pünktlich waren wir bei dem niedergelassenen Internisten. Man hatte uns gesagt, dass das Herzecho schnell gehen würde. Als wir in der Praxis ankamen, sagte uns die Sprechstundenhilfe, dass der Arzt kurzfristig Besuch von einem Kollegen bekommen habe und mit ihm Essen gegangen sei. Wir müssten uns eine Stunde gedulden. Ich möchte einmal wissen, was dieser Arzt sagen würde, wenn er sich für einen Termin freigemacht hat und ihm dann erklärt wird, dass er eine Stunde warten müsste. Ist das die Art wie man mit Kassenpatienten umspringt. Schließlich hatten wir einen Termin. Als wir der freundlichen Sprechstundenhilfe erklärten, dass wir noch einen Gesprächstermin in der Onkologischen Ambulanz hätten, sagte sie uns, sie würde die Assistenzärztin bitten, die Untersuchung zu machen. Diese wollte sich gerade an uns vorbei schleichen, als die Sprechstundenhilfe sie anhielt und sagte, sie müsse noch ein Herzecho machen. Daher konnte die Ärztin nicht verschwinden und nahm Tina mit zur Untersuchung. Nach einer halben Stunde kamen beide wieder und Tina hatte den entsprechenden Befund, dass ihr Herz in Ordnung sei.