Rezidiv oder wir wollen leben – Teil VI

Kapitel 30

Diese kam am nächsten Tag. Wir hatten von der Chemo-Ärztin beim damaligen Aufklärungsgespräch eine Taxiverordnung bekommen. Hierbei half uns wieder die Krankenkasse weiter. Tage zuvor hatte ich mit einem Sachbearbeiter unserer Krankenkasse verabredet, dass ich ihm eine entsprechende ärztliche Verordnung schicken soll. Zwischenzeitlich hatte er ein Taxiunternehmen durch ein Ausschreibungsverfahren aussuchen können. Die Genehmigung kam kurze Zeit später, nachdem wir die erforderlichen Unterlagen eingereicht hatten. Wieder muss ich die Kooperationsbereitschaft der Mitarbeiter der Kasse loben. Hoffentlich bleibt es so auch nach der Wahl. Ich habe ein bisschen Angst davor, wenn dann im Gesundheitsresort weiter eingespart wird. Vielleicht setzt sich der Ruf nach einer weiteren Privatisierung des Gesundheitswesens durch. Die Zukunft wird es zeigen. Ich hoffe, dass sich meine Sorge nicht bestätigte. Nun stand der Mietwagen pünktlich vor der Tür. Ich hatte mir für die Tage der Port-Implantation und der ersten Chemo freigenommen. Daher konnte ich Tina begleiten. Vor unserem Haus wartete der Mietwagen mit einem doch sehr mürrischen Fahrer. Er beklagte sich einfach über alles. Insbesondere schimpfte er über die ausländischen Kollegen, die ihren Taxischein nur durch Betrug bekommen hätten. Auch hasste er seinen Wagen. Dabei fand ich die B-Klasse von Mercedes sehr schön. Man konnte ihm anmerken, dass er sich durch diesen Wagen degradiert fühlte. Früher hätte er schließlich eine S-Klasse gefahren. Ich erklärte ihm, wie wir am besten zur Klinik fahren sollten. Dabei erzählte ich ihm, dass ich mich früher schon einmal über Taxifahrer geärgert habe, die einen anderen Weg fahren wollten. Dabei hatte ich bemerkt, dass dies dann ein Umweg gewesen sei. Er bestätigte mir, dass er immer dem Wunsch des Fahrgastes entsprechen würde, auch wenn dies der längere Weg sei. Dies war aber ein Lippenbekenntnis. So wollte er plötzlich an einer Stelle abbiegen und eine schlechtere Strecke nehmen. Ich bat ihn, doch sich nach meinem Wunsch zu verhalten und meinen vorgeschlagenen Weg einzuhalten. Ich kannte schließlich auch die Strecke, die er fahren wollte. Diese führt durch enge Straßen mit schlechtem Bodenbelag. Da ich wusste, dass solche Schläge durch das Kopfsteinpflaster Tina doch erhebliche Schmerzen verursachen würden, bat ich energisch, die Strecke nach meinem Wunsch zu folgen. Dieser Besserwisser und Angeber folgte nur unwillig meinen Anweisungen. Ich hätte auch kein Aufbegehren zugelassen. Später erzählte er mir, dass er davon ausgegangen sei, dass Tina zum Hauptgebäude der Klinik musste. Damit konnte man sehen, dass er gar nicht zugehört hatte. Er kannte die onkologische Abteilung im Brustzentrum überhaupt nicht. Nun waren wir da. Die Station war noch ziemlich leer. Irgendwann rief uns ein junger Arzt in ein Behandlungszimmer und schloss Tina durch ihren Port an eine Infusion an. Dabei wollte er uns unsere Fragen beantworten. Dazu kam es aber gar nicht, da er sich plötzlich beeilen wollte. Tina konnte ihn nur noch auf den großen blauen Flecken unterhalb des Portes hinweisen. Er konnte uns aber beruhigen. Dann sagte er, er würde unsere Fragen nach der Chemo-Behandlung beantworten. Nun suchten wir uns ein Zimmer. Hier kamen mir schnell die Kommentare bei der damaligen Fernsehsendung in Erinnerung. Damals hatte man sich die Kritik von den ehemaligen Patienten zu Herzen genommen und mehrere Behandlungszimmer eingerichtet, wo sich die Patientinnen zurückziehen konnten, wenn sie ihre Ruhe haben wollten. Nun erschien es mir, es waren nur noch Ruheräume entstanden. In allen Räumen saßen Patientinnen, die durch ihre Körpersprache schnell zu verstehen gaben, dass hier Ruhe herrschen sollte. Selbst in dem größten Raum saßen zwei ältere Damen, die sofort aufschauten, als wir diesen Raum betraten. Sie beachteten weder unseren Gruß noch sagten sie einen Ton. Vielmehr schlossen sie die Augen. Ich schaute Tina an und diese erwiderte meinen Blick. Ich fragte, wollen wir wirklich hierbleiben. Wir hatten beide das Gefühl, hier sind wir in einer Gruft. Wir wollten doch den Krebs mit Lebensmut überwinden. Dies war aber schwierig, wenn man die Chemo in einer Gruft bekommen würde. Schnell sehnten wir uns nach der engen alten Onkologie. Ich erinnerte mich plötzlich an all die Gespräche, die damals zwischen den Patienten stattgefunden hatten. Dort war ein großer Lebens- oder Überlebens-mut zu spüren. Diese Frauen waren sehr stark. Unvergessen ist mir die Tuchbindeaktion geblieben. Hier hatten damals viele Frauen Tina gebeten, dass sie ihnen zeigen solle, wie sie ihre Kopftücher gebunden hatte. Andere Frauen erzählten, wo sie ihre speziellen Mützen anfertigen lassen hatten. Es entstanden tolle Gespräche. Sie teilten sich das gemeinsame Leid des Krebses. Aber man spürte, hier waren starke Frauen vereint. Der damalige junge Onkologe war die Seele dieser alten und kleinen Station. Er hatte das gewissen Etwas, das den Frauen gefiel. In seiner jungenhaften Art verbreitete er einen ansteckenden Optimismus. Jetzt sah alles anders aus. In der neuen Onkologie war wohl Ruhe das oberste Gebot. Die Ärzte sah man kaum. Sie hatten auf dieser neuen Station auch viel mehr Platz, den Patienten auszuweichen. Dieses Beispiel schien auf die Patientinnen abzufärben. Jede konnte der anderen ausweichen. Ich wage zu bezweifeln, ob das wirklich der Sinn dieser großen Station gewesen war. Natürlich wäre es auch damals schön gewesen, hin und wieder dem Trubel der Enge ausweichen zu können. Doch der Trubel bewirkte aber auch eine Lebendigkeit, die meines Erachtens auch wichtig ist. In einem anderen Zimmer hatte ich eine Patientin mit ihrer Freundin entdeckt. Die beiden erschienen mir doch etwas lebendiger als die anderen. Wir gingen in das Zimmer und grüßten. Dabei sagte ich, dass wir uns in den anderen Zimmern unwohl gefühlt hatten und die beiden sympathisch auf uns wirkten. So kamen wir ins Gespräch. Die Patientin war jünger als wir. Sie wirkte auf uns, als wolle sie die Krankheit mit „Herumkasperln“ besiegen. Zumindest war das ein deutliches Lebenszeichen. Dies gefiel uns. Irgendwann kam aber auch hier eine ältere Patientin, die deutlich zeigte, dass sie Ruhe haben wollte. Damit waren unsere Gespräche schnell zu Ende. Hier sollte man an dem Konzept doch noch mal feilen. Vielleicht könnte man die Zimmer in Gruften bzw. Ruheräume oder Lebenwollen – Zimmer unterteilen. Die Bezeichnung Gruft möge man mir verzeihen. Hierin versuche ich nur meinen Eindruck zu beschreiben. Natürlich hat jede Patientin das Recht, die Chemo ruhig über sich ergehen zu lassen. Jeder hat schließlich ihre eigene Art gegen den Krebs zu kämpfen. Aber die anderen Lebhaften müsste aber auch die Chance für ihren Kampf bekommen. Wir gehörten zu den Lebhaften und wollten auch viel von anderen erfahren, was sie bisher erlebt hatten und wie sie den Kampf gegen den Krebs fechten. Ich glaube, dass solche Erfahrungsaustausche wichtig sind. Also liebe Leitung und Verantwortliche der Onkologie unterteilt die Zimmer entsprechend der Bedürfnisse der Patienten! Unterhaltet euch mit Ihnen und lernt von ihren Ansichten! Ruht euch vor allen Dingen nicht auf das bisher Erreichte aus! Habt keine Angst, dass die Patientinnen hier konspirative Gespräche führen werden!

Irgendwann schaffte ich es, der im Zimmer stehenden Stereoanlage einen Radiosender abzutrotzen, der lebendige Musik ins Zimmer brachte. Die Stereoanlage war sehr schön und neu. Radio konnte man aber nur hören, wenn man den Standort dieser Anlage veränderte. Aber traut man sich denn dazu? Haben eventuell Schwestern und Ärzte etwas dagegen? Aber Ärzte sah man kaum oder gar nicht und die Schwestern hatten viel zu viel zu tun. Hier war der größte Fehler der neuen Onkologie. Die Station war viel größer und hatte Platz für bedeutend mehr Patientinnen. Nur die Anzahl des Personals war der neuen Größe nicht angepasst. Ich zählte genauso viele Schwestern wie in der damaligen kleineren Onkologie. Nun hatte jede einzelne Schwester wesentliche mehr Patientinnen zu betreuen. Damit hatte sie kaum Zeit für persönliche Gespräche. Sie taten zwar gewissenhaft ihre Arbeit. Es fehlte ihnen aber die frühere Leichtigkeit. Man merkte ihnen an, dass sie unter einen gewaltigen Stress standen. Sie hatten kaum Zeit für ein persönliches Wort mit den Patienten. So verging der Tag der Chemo. Während Tina schlief, schaute ich mir die Kunstbilder auf der Station an. Hin und wieder fotografierte ich eins der Bilder. Sie sollten später eventuell Vorbilder für Tinas künstlerische Tätigkeiten sein. Ich versorgte Tina so gut wie ich konnte. Einmal gingen wir mit der Infusion nach Unten zum Empfang. Dort gibt es einen kleinen Kiosk. Dort kauften wir uns jeder ein Würstchen. Dies war eins der teuersten, das ich je gegessen hatte. Aber egal, wir waren der Totenstille der Onkologie entronnen. Dort trafen wir die junge Mitpatientin mit ihrer Freundin. Wir unterhielten uns kurz. Irgendwann fuhren wir nach oben. Dies ist ebenfalls ein Fehler dieser Onkologie. An der alten Station grenzte ein kleiner Garten an. In diesen Garten konnte man sich ebenfalls zurückziehen oder sich zusammen mit den anderen auf der Terrasse bequem machen. Damit wurde auch die Stimmung gelöster. Die neue Station war schöner und heller, aber lag ganz unten. Hier herrschte mehr eine Krankenhaus Stimmung. Wir fanden das sehr schade. So mussten wir in dieser neuen, schönen und hellen onkologischen Abteilung bleiben. Es wurde ein sehr langweiliger Tag. Am Abend wollten wir dann nach Hause. Da die Chemo am ersten Tag so lange gedauert hatte und uns keiner sagen konnte, wann sie endlich beendet sei, konnten wir das Taxi nicht vorzeitig bestellen. Als ich dann das Mietwagenunternehmen anrief, sagte man mir, wir müssten noch 45 Minuten warten. Da ich selber aber noch einen Arzt-Termin hatte, rief ich meine Tochter an, dass sie uns mit unserem Auto holen solle. Nun hat unsere jüngere Tochter noch nicht so lange den Führerschein. Da sie kein eigenes Auto hat, nutzt sie jede Gelegenheit mit unserem Auto zu fahren. Im Anfang hatte ich immer etwas Angst, wenn sie mit dem Auto unterwegs war. Nun ist sie doch relativ routiniert geworden. Natürlich habe ich immer noch etwas Angst. Ich glaube aber, das ist vätertypisch. Eigentlich fährt sie jetzt ganz gut. Aber manchmal fragt sie noch, wie sie fahren muss. Dann habe ich Angst, dass sie sich einfach nur verfährt und nicht weiß, wo sie sich befindet. Wenn wir dann so wie jetzt auf sie warteten, beschleicht mich immer die gleiche Angst, dass sie nicht ankommt. Dabei hatte ich vergessen, dass sie nicht schneller kommen konnte, da sie mitten im Berufsverkehr uns abholen sollte. Ich war so richtig froh, als sie kam.

Kapitel 31

Tina ging es am nächsten Tag relativ gut. Sie hatte viele Medikamente gegen die Nebenwirkungen bekommen. Die Onkologin hatte uns einen Zettel mitgegeben, wie diese Medikamente zu dosieren und zu nehmen sind. Da dies aber sehr verwirrend formuliert war, versuchte ich die Dosierungs-Anleitungen in eine übersichtliche und lesbare Form zu bringen. Dies war mir unserer Meinung nach gut gelungen.
Da ich noch einen freien Tag hatte, haben wir ihn genutzt, um uns etwas von den letzten Anstrengungen zu erholen. Ich habe auch einige Arbeiten erlegt, die schon die ganze Zeit liegen geblieben sind. Da das Wetter schön war, hatte sich Tina auf unseren Balkon gesetzt und zwischendurch unseren Blumenkasten versorgt. Dies ist ein weiteres gemeinsames Hobby. Wir finden es wunderschön, wenn unser großer Balkonblumenkasten in allen möglichen Farben blüht. Ich hatte inzwischen den Rasen gemäht. Dann saßen wir zusammen auf dem Balkon und genossen den schönen warmen Tag. Später gingen wir zusammen in ein Eiscafe. Wir lebten wieder. Am nächsten Tag musste ich wieder ins Amt. Das hieß wieder früh aufstehen und spät wieder nach Hause kommen. Seit ich nicht mehr in Köln arbeite, bin ich jeden Tag 11 Stunden unterwegs. Langsam geht das über meine Kräfte. Abends bin ich oft so müde, dass Tina und ich nicht mehr viel vom gemeinsamen Abend haben. Irgendwann schlafe ich einfach im Sessel vor dem Fernseher ein. Manchmal schaffe ich es noch vorher ins Bett zu gehen. Ich empfand es nun noch schlimmer, seit Tina krank ist. Eigentlich müsste ich viel mehr bei Tina sein. Aber es geht leider nicht. Irgendwann habe ich dann Tina gesagt, dass wir nach ihrer Krankheit näher an meine Arbeit ziehen werden. Da sich Tina nie so richtig wohl in unserem Haus gefühlt hatte und nur wegen mir geblieben war, war sie richtig froh über meine Entscheidung. Nunmehr sagt sie mir jeden Tag, wie schön es sein wird, wenn wir umgezogen seien. Sie wünscht sich eine Wohnung mit einer großen Terrasse. Ich habe ein klein wenig Angst vor diesem Schritt bekommen. Vor allem macht mir der Umzug Sorgen. Weiterhin möchte ich auch eine vergleichbare Wohnung. Sie müsste darüber hinaus auch bezahlbar sein. Die Miete sollte auch nicht so hoch sein, dass wir uns keinen Urlaub mehr leisten können. Zum Schluss muss auch Tina wieder gesund sein. In der jetzigen Situation wäre ein Umzug tödlich. Aber ich weiß, der Umzug wird kommen. Ich hoffe dann nicht, dass ich Heimweh nach Köln haben werde. Schließlich lebe ich hier seit meiner Geburt. Ich kenne meine Stadt in und auswendig. Allerdings geht uns aber auch der Lärm der Großstadt ganz mächtig auf die Nerven. Wir werden ja noch sehen, wo es uns hin verschlägt. In jedem Fall wird es dann nicht mehr so weit zu meiner Arbeit sein. Ich möchte wieder mehr Zeit mit Tina verbringen.