Rezidiv oder wir wollen leben – Teil V
Kapitel 27
Am nächsten Tag war der Betriebsausflug meines Amtes. Tina hatte zu mir gesagt, dass ich ruhig mitfahren könne, zumal sie Besuch von einer alten Freundin bekommen würde. Abends wurde diese von ihrer langjährigen Freundin abgeholt. Mit dieser Freundin war ich in meiner Jugendzeit einmal zusammen. Heute war sie ebenfalls an Krebs erkrankt. Bald kamen die beiden ins Gespräch. Tina schilderte ihr ihre Angst vor der Port-Operation. Die Freundin erzählte, dass sie ihren Port bei einem niedergelassenen Onkologen in einer Kurznarkose bekommen habe. Also war Tinas Entschluss gefasst, der Port wird nur unter Vollnarkose gelegt. Nun sollte dies bei der Vorbesprechung in der radiologischen Abteilung besprochen werden. Ich war allerdings sehr skeptisch, denn ich hatte bisher nirgendwo gelesen, dass man einen Port mit einer Vollnarkose legt. Ich bat Tina, dass sie einmal Renate von „Wir alle“ anrufen soll, um sie um Rat zu fragen. Sie erklärte ihr, dass man einen Port immer mit örtlicher Betäubung legen würde, weil die Narkose eine viel so große Belastung für diesen relativ kleinen Eingriff sei. Tina erklärte ihr, dass sie eine riesige Angst davor habe, alles bewusst mit zu erleben. Renate riet ihr, dass Tina die Operateurin um eine starke Beruhigungsspritze bitten solle. Das war ein guter Rat. Innerlich war ich der gleichen Meinung. Ich hatte auch Angst, dass sich die Chemo durch die Idee der Vollnarkose weiter verschieben würde. Nie hätte ich aber versucht, Tina von dieser Idee abzubringen. Diese Entscheidung betraf sie ganz allein. Ich hatte hier kein Recht, sie dafür zu kritisieren. Wenn sie die Vollnarkose wollte, würde ich mich dafür voll einsetzen. Aber es kam anders.
Am Freitagmorgen war dann die Vorbesprechung in der Radiologische Abteilung. Wieder empfing uns eine junge Ärztin. Diese war aber sehr nett und kompetent. Tina besprach mit ihr ihre Angst vor dem bestehenden Eingriff. Die Ärztin beruhigte sie und sagte ihr, dass man die örtliche Betäubung so dosieren würde, dass sie garantiert nichts spüren würde. Darüber hinaus würde man ihr vor dem Eingriff eine starke Beruhigungstablette geben. Außerdem könnte Tina sich einen MP3-Player mit ihrer Lieblingsmusik mitbringen. Als letztes versprach die Ärztin ihr, dass ich bis kurz vor der Operation bei Tina bleiben dürfte. Die Ärztin erklärte uns dann den Eingriff sehr gut. Man macht einen Schnitt unterhalb des Schlüsselbeines. Dann punktiert man die Hauptherzvene und schließt dort einen Schlauch an. Diesen verbindet man mit dem eigentlichen Port, der unter die Haut gelegt wird. Der Port besteht aus einem kleinen stabilen Hohlkörper, auf dem eine Membrane gespannt ist. Durch diese Membrane wird dann jeweils bei der Chemo gestochen. Damit werden weitere Beschädigungen an anderen Venen verhindert. Durch den Anschluss an eine große Hauptvene vermeidet man auch, dass die Chemo die Venen beschädigt, weil das Gift schneller durch den Körper gepumpt wird und sich daher nicht an den Venenwänden ablagern kann. Ich hatte das Gefühl, dass Tina etwas beruhigter war. Dies war ausschließlich das Verdienst dieser freundlichen Ärztin. Es gab also doch noch Ärzte in dieser Klinik, die ihre Menschlichkeit trotz des andauernden Stresses nicht verloren hatten. Sie verkörperte Kompetenz mit einer menschlichen Wärme. Diesem Menschen konnte man vertrauen. Sie leugnete nicht, dass der Eingriff unangenehm sein würde. Sie würde sich aber Mühe geben, dass es nicht so schlimm für Tina werden wird.
Kapitel 28
Am Wochenende nahmen wir uns erneut vor, ein normales Leben zu führen. Dabei hatten wir verabredet, dass wir über die Krankheit nicht sprechen wollten. Das hieß insbesondere, wir wollten alleine sein. Wir hatten erfahren, dass es in einem anderen Stadtteil ein Straßenfest unter dem Motto „Kunst in der Sackgasse“ gab. Dabei stellten viele Künstler ihre Bilder aus. Es wurde ein sehr schöner Tag. Tina holte sich viele Anregungen für ihre Malerei. Wir führten viele Gespräche mit den Malern und Malerinnen über deren Techniken. Sie gaben uns bereitwillig Auskunft. Ich glaube, dass sie sich gefreut haben, dass wir uns so für ihre Kunst interessiert haben. An diesem Tag lebten wir beide in einer anderen Welt. Die Krankheit war nicht vorhanden. Es gab nur Farben, Bilder und Motive. Alle machten Tina Mut, weiter zu malen. Dabei bekamen wir manchen Rat, wie man seine Gefühle auf die Leinwand bringen könnte. Es machte mir Spaß, mit den Künstlern über ihre Bilder zu philosophieren. Dabei versuchte ich zu erforschen, was sie mit ihren Bildern ausdrücken wollten. Manchmal sah ich in den Bildern etwas anderes als der Künstler oder die Künstlerin selbst. Tina musste manchmal lachen, wenn ich mich so intensiv mit den Malern und Malerinnen unterhielt. Sehr oft mischte sie sich dann ein. Damit kam es zu wunderschönen Gesprächen. Es war ein herrlicher Tag. Abends trafen wir uns mit allen Geschwistern von Tina. Dabei wollten wir uns deren Hilfe für die Zeit der Chemo sichern. Dies war kein Problem. Es wurde ein sehr schöner Abend. Jeder hatte bereits eine Idee, wie sie uns helfen könnten. Dabei waren es zumeist normale Dinge, wie zusammen ins Kino oder mal etwas trinken gehen. Natürlich wurde auch geplant, dass immer jemand bei Tina ist, wenn sie aus der Chemo zurückkommt. Es sind tolle Geschwister. Ich beneide Tina dafür. Ich habe nur einen Bruder, der sich absolut nicht um uns kümmert, obwohl er bei uns im Hause wohnt. Zu sehr ist er mit seinen eigenen Dingen beschäftigt.
Kapitel 29
Am Montag war es soweit. Wie so oft machten wir uns auf den Weg in die Klinik. Diesmal ging es aber nicht in das Brustzentrum, sondern ins Hauptgebäude. Das Parken vor dem Hauptgebäude ist sehr schwierig, wenn man nicht in das Parkhaus der Klinik möchte. Es ist aber sehr teuer, wenn man für längere Zeit sich im Krankenhaus aufhalten muss. Also ließ ich Tina vor dem Haupteingang aussteigen. Sie sollte schon einmal vorgehen, damit sie sich anmelden könne. Ich suchte zwischenzeitlich einen Parkplatz. Da ich schon hunderte Male mit dem Auto zur Klinik gefahren bin, weiß ich, an welchen Stellen ich einen Parkplatz suchen muss. Ich wundere mich jedes Mal, wie viele Studenten morgens mit dem Auto fahren. Man sieht auch kaum die typischen Autos aus meiner Studienzeit. Früher hatte ich gedacht, Studenten haben kein Geld und fahren entweder mit dem Fahrrad oder mit alten Autos. Ich habe selten so viele neue Autos gesehen, wie an dieser Klinik, zumal in der Nähe die Universität ist. Dabei handelt es auch um besondere Autos wie Sportwagen und Cabrios. Es ist erstaunlich über wie viel Geld doch viele Studenten verfügen. Zu meiner Zeit war das schon etwas anders. Die meisten Studenten mussten nebenher arbeiten, damit ihr Lebensunterhalt gesichert war. Heute scheinen sehr viele Studenten reiche Eltern zu haben. Vielleicht ist dies auch nur bei den Medizinern so auffällig. Dadurch dass so viele Studenten mit dem Auto zur Uni fahren, sind die freien Parkplätze sehr knapp. Nun könnte man meinen, dass ich vielleicht übertreibe. Ich kann aber meine These insofern beweisen, wenn man während der Semesterferien dort einen Parkplatz suchen muss. Man findet sofort einen entsprechenden Abstellplatz. Da viele der Studenten etwas lauf faul sind, suche ich immer einen, der etwas weiter entfernt ist. Endlich fand ich einen Parkplatz, der wider Erwarten in der Nähe gelegen war. Tina war zwischenzeitlich bereits in der Anmeldung. Da wir sehr früh am Morgen einen Termin hatten, war die Anmeldung noch spärlich besetzt. Von den ca. 10 Anmeldeplätzen rief nur eine Mitarbeiterin die Wartenden auf. Eine zweite war nur mit ihren Zeitschriften beschäftigt. Tina saß ganz brav in der Ecke des Wartebereiches und wartete bereits schon über zehn Minuten, obwohl gar kein anderer Patient im Wartebereich war. Nun habe ich einen Trick, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Ich setze mich meist so hin, dass mich der Mitarbeiter ständig sehen muss. Dass bringt ihn so unter Druck, da er alleine durch meine Anwesenheit nicht mehr in der Lage ist, seine privaten Dinge zu erledigen. Sollte er trotzdem nicht reagieren, mache ich durch Husten und Räuspern auf mich aufmerksam. Auch diesmal hatte ich Erfolg. Die erste Mitarbeiterin forderte ihre Kollegin auf, doch den nächsten aufzurufen. Damit ging es sehr schnell. Nach der Anmeldung fuhren wir mit Aufzug hoch zur Radiologie. Dort gibt es noch mal eine Anmeldung. Hier wirkte mein Trick nicht, da gar keiner zu sehen war. Erst auf ein lautes Rufen kam eine Mitarbeiterin, die sich sofort entschuldigte, als hätten wir sie bei etwas Verbotenes erwischt. Vielleicht muss sie beim Dienstbeginn ja auch an ihrem Platz sitzen. Nach dieser Anmeldung wurden wir in einen Wartebereich weitergeleitet. Nach kurzer Zeit wurde Tina von einer Krankenschwester aufgerufen. Da wir mit der jungen Ärztin vereinbart hatten, dass ich Tina bei der Vorbereitung der Operation beistehen durfte, wollte ich nun mitgehen. Die Schwester aber meinte, ich solle doch im Wartebereich zurückbleiben. Energisch sagte Tina, dass wir das mit der Ärztin am Freitag verabredet hätten und sie ohne mich nicht mitgehen würde. Die Schwester gab nach und so gelangte ich mit Tina in den Operationssaal. Dort erwartete uns die junge Ärztin. Da sie uns beide persönlich begrüßte, war wohl auch die Schwester beruhigt. Ich versuchte nunmehr Tina durch ruhige Zusprache und mit etwas Humor etwas Angst vor diesem Eingriff zu nehmen. Ich hatte ihr für diesen Tag meinen MP3-Player so präpariert, dass sie ihre Lieblingsmusik hören kann. Damit hoffte ich, dass sie nicht so viele Geräusche hören müsste. Die Ärztin ließ mich machen, denn sie sah, dass meine Anstrengungen Früchte tragen würden. Somit konnte sie sich selbst in Ruhe vorbereiten. Als sie fertig war, bat sie mich den Operationsbereich zu verlassen. Ich küsste Tina und sagte ihr nochmals, dass ich in der Nähe bleiben würde. Nach ca. einer Stunde kam die Ärztin zu mir und sagte, dass alles gut gegangen sei. Ich war sehr beruhigt. Diese Ärztin wusste, wie man mit Angehörigen umzugehen hatte. Wenig später sah ich Tina. Sie machte schon einen ziemlich mitgenommenen Eindruck. Auf meine Frage, wie es gewesen sei, sagte sie, dass sie noch nie so etwas Furchtbares erlebt hätte. Es sei besonders schlimm gewesen, als sie gemerkt habe, wie man den Schnitt ausgeführt habe. Zwischendurch musste die Ärztin die örtliche Betäubung verstärken. Der Trick mit dem MP3-Player hatte auch nur zum Teil geklappt, da Tina ihn nicht so laut stellen konnte, weil sie auch ständig Anweisung während des Eingriffes bekam. „Jetzt Atmen, nun Luft anhalten und ähnliches!“ Am Schlimmsten empfand sie aber, weil man ihr den Kopf so zugedeckt hatte, dass sie nur durch einen kleinen Spalt auf die Beine der OP-Schwester sehen konnte. Da sie als kleines Kind als sogenannte Erziehungsmethode öfters von ihrer Mutter in den Keller gesperrt wurde, litt Tina doch an Klaustrophobie. Damit hatte sich ihre Angst bei dem Eingriff erheblich verstärkt. Selbst die Beruhigungstablette, die sie vorher bekommen hatte, konnte sie nicht beruhigen. Nun hatte Sie diesen Eingriff glücklich überstanden. Sie lobte aber ausdrücklich die liebevolle Art des Operationsteams. Diese hatten ihr Bestes in der Situation gegeben. Wir sind aber weiterhin der Meinung, dass man einen Port mit einer Vollnarkose legen sollte. Selbst wenn das körperliche Risiko hierdurch höher ist, wird aber die starke psychische Belastung erheblich vermindert. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Spielt die Seele nicht mit, ist dies sicherlich auch eine ernst zu nehmende Komplikation. Nachdem sich Tina etwas erholt hatte, verließen wir das Bettenhaus und waren glücklich, dass wir insbesondere aber Tina dies heil überstanden hatten. Nun konnte die Chemo kommen.